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Unsinn in Usingen! | |
Wer glaubt, dies sei die Skizze des heterogenen EDV-Netzwerks einer mittelständischen Firma, irrt gewaltig! Hier versuchte der leitende Repräsentant des Strukturvertriebs mir nahezubringen, wie die Struktur aufgebaut ist, wieviel Eurii man auf welcher Ebene pro abgeschlossener Einheit erhält und wie man - wenn man die nächsthöhere Stufe erreicht hat - auch von den Abschlüssen derjenigen profitiert, die man selbst in's Boot holte.... auf dem Papier sieht's ganz interessant aus ("Rechnen Sie mal zuhause in Ruhe aus, wieviel Sie hier verdienen können...").
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... und hier seht Ihr meinen Ausbildungsplan. ("Unsere Ausbildung - ich würde sie mit einem durchschnittlichen Wert von 200.000 EURO taxieren, wird immer beliebter in der Wirtschaft.") Tja, hätte ich das mal vorher gewusst!!!! Denn ich habe schon durchschnittlich 50.000 EURO in 'ne Ausbildung investiert, die von der freien Wirtschaft nur suboptimal angenommen wird. Schade nur, das ich für die erste Infoveranstaltung einen Unkostenbeitrag von knapp 120 Talern selbst tragen soll ("Ich sehe, Sie sind verlobt! Bringen Sie doch Ihre Verlobte auch mit, dann weiss Sie auch, was Sie abends so machen und kommt nicht auf komische Gedanken...").
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Und das ist doch mal eine ehrliche Anzeige, die einem kein "X" für ein "U" vormacht: Keine Chance haben Studente'köpp, es muss jemand sein, der "die gute Seele" sein wird (wie sieht eigentlich eine seelsorgerische Tätigkeit inner' Pommesbude aus?!?!) und man sollte die mitteleuropäische Verkehrssprache Cölbes beherrschen.... Oder wie es Grandmaster Kafka und Mellemel ausdrückte: "An der Wursttheke da ist Polonäse! Abends tu ich dann um kurz nach halb sieben, den ganzen Kladderadatsch in die Kühlkammer schieben! Ich bin der Wurstfach - ich bin der Wurstfach - ich bin der Wurstfachverkäuferin!! Ich bin die Wurstfach - der Wurstfach - der Wurstfachverkäuferin ihr Freund!"
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"(...) [Cliffhanger aus der letzten Kolumne:] Die Usingentour bedeutete jedoch nicht nur, hessische Bimmelbahnen in der freien Natur zu erleben: Es bedeutete auch, wirklich an der tiefsten Stufe der Erwerbsarbeit anzukommen: Dort wird mir die Mitarbeit als Freier Handelsvertreter eines Strukturvertriebs angeboten - ich soll für eine Versicherung Produkte der Altersvorsorge verticken.... dazu in Bälde ein paar ausführlichere Worte... tja, so ist er, der Widerspruch zwischen Geltungsstreben und der realen Bedeutungslosigkeit der eigenen Existenz."
Der obige Titel passt nicht, er müsste - im Rückblick und mit angemessenem Abstand - "Usingen, Vorhölle!" lauten. Auf die Idee für diese Ausgabe brachte mich Maya T., als ich von meinem ersten, von der A-Gruppierung vermittelten Vorstellungsgespräch berichtete. Sie meinte "Das ist doch ein tolles Thema für ein Kolumne, das glaub' ich alles nicht!" "Hmmm, Maya, ich kann doch keine Namen nennen!" "Dann verfremde das gefälligst!" "Jawoll!" Denn: Der Sheriff von Arkansas war 'ne Lady!
Nun gut. Ich war in Usingen, einem freundlichen Gemeinwesen in der Nähe des Ortes, in dem der Kanzler immer so herzlich und innig von Gewerkschaftlern begrüsst wird. Ich war nicht gefangen in der Wortspielhölle, nicht im Schattenreich von Dr. Fellatio Phantastico - nein - ich war im Schattenreich des Strukturvertriebs!
Allein schon der Erstkontakt ist eine Erwähnung wert: Mir flattert der Vordruck von Gersters Gesellen in's Haus, auf dem die bekannte Firma / Bezeichnung / das Motto (?) "Erfolg, Glück ist planbar" kurz vorgestellt und als Kontakt eine Dame mit Mobilnummer zur Gesprächsvereinbarung angegeben war. Als guter Staatsbürger, der z. Zt. Transferleistungen bezieht, nehme ich stante pede Kontakt auf. Es klang ja schon eh alles nicht ganz koscher ("Was wir genau machen kann man nur schwer am Telefon beschreiben - kommen sie vorbei, dann erklären wir ihnen das") - aber dann wurde der Schleier am Tag des Kontaktes ("Wir sind Borg und kommen Sie zu assimilieren!") gelüftet.
Ich soll als selbständiger Handelsvertreter (§ 84 HGB??) Strukturvertrieb für eine Versicherung machen: [Produktname] verticken, eine Anlage zur privaten Altersvorsorge von [Vetriebsgesellschaft einer grossen Versicherung]. Und erstmal bei Bekannten und Verwandten anfangen... das ist glaube ich das Ende... und für das Erstinfoseminar in Potsdam werden knapp 120 Taler Eigenbeteiligung fällig.
Dagegen ist Gebrauchtwagenverkauf ja was HOCHSERIÖSES. Was kommt als nächstes? Mein Einstieg bei MLP? AWD? AEG?! Vielleicht arbeite ich demnächst als Dienstleister, der Zeitungshäufchentriage (ZEIT, WELT, FAZ) in Bürgerhaushalten anbietet oder in meinen Lieblingsberuf als Konjunkturankurbler! Oder wirklich ganz, ganz, ganz - ganz unten im wallraffschen Sinne: Ich werde Beauftragter für Popkultur und Popdiskurs innerhalb der SPD....
Aber das Gespräch mit dem "leitenden Repräsentanten" und der am Telefon Erst"auskunft" gebenden Dame war ein Erlebnis für sich. Wo ich war, ahnte ich, als ich mir an den Wänden des - in einem Hinterhof befindlichen Gebäudes - Büros die vielen bunten und Stil ausatmenden Urkunden für Herrn X und Frau Y betrachtete. Verkäufer des Monats, Vertrieblerin des Jahrzehnts, Teilnahme an Fortbildung ABC in New York... heh, ich gewann fast den Eindruck, es gehe um Versicherungen! Dabei äusserte die Dame am Telefon - auf mein Insistieren - es ginge um einen Bildungsanbieter, der im Laufe des Jahres auf 250 Mitarbeiter wachsen wolle...
Tolle Dialoge entsponnen sich vor Ort. "Haben sie etwas gegen Versicherungen?", "Nö, dem Produkt stehe ich eher neutral gegenüber.", "Es ist halt Vertrieb!", "Ich glaube durchaus über verkäuferisches Talent zu verfügen!", "Wie komme ich an Kunden, schlage ich einfach das Telefonbuch auf und telefoniere druff los?", "Hätten sie Probleme damit?", "Mein zweiter Vorname ist Kaltakquise!". Ich bin höflich, leidlich interessiert, ignoriere die Krawattennadel (Ästhetikverbrechen on the rocks!) meines Gegenüber, stelle meine Fragen (Kunden, Kundenschutz, Vertriebsgebiet, Backoffice resp. Vertriebsunterstützung, Individualisierung des Produkts) und erhalte Nullantworten. Der gereichte Kaffee ist immerhin ganz passabel...
Auf der Rückfahrt im Nichtraucherabteil muss ich an die Worte eines jungen Bundesbruders von Fechtmeister Betz denken, der betont launig die Raucherdiskriminierung im Fernverkehr und die Aufteilung in Raucher- und Nichtraucherabteile im Intercity reflektierte: "Die Einteilung in Raucher und Nichtraucher ist total sinnlos! Da kannste' dann einfach auch 'n Seil hinhängen! Das ist so sinnvoll wie die Einteilung eines Schwimmingpools in Pisser und Nichtpisser..." Ich ergehe mich in Selbstmitleid und Sinnsprüchen... "Wer nichts wird, wird Wirt. Wer garnichts wird, wird Bahnhofswirt - und ist dies alles nicht gelungen, so macht er in Versicherungen...."
Und überhaupt: Mittlerweile rauche ich nicht mehr für die Innere Sicherheit, sondern für's Gesundheitssystem. Willkommen in Ulla Schmidts Barnie-Bizarrheimer-Welt... Ich flaniere durch Luton Town, komme an der Alten Oper Frankfurts, bis 1983 "Deutschlands schönste Kriegsruine", vorbei. Schön hier im Sommer: Flanierende hochausgebildete Menschen, z. T. arbeitslos, zum Teil illusionslos, zum Teil sogar Eintracht Frankfurt-Anhänger: Denen müsste doch "Ein-Stück-weit-Riester-Rente" zu verkaufen sein.... brrrr... schnell diesen exzentrischen Gedanken verwerfen. Ein Freund von mir, der Direkt- und Strukturvertrieb eher positiv gegenüber steht, meinte auf meinen Referenzcheck der Usingen-Gruppierung lapidar: Das ist der letzte Bodensatz! So sei es!
Das beste am ganzen Tag war die Erweiterung meines Skurrilitätportfolios und vor allem der Thai-Imbiss in der Nähe des Friedberger Hauptbahnhofs. Hervorragendes Schweinefleisch im Schlafrock, frittiert mit suess-saurer Sauce - Weltklasse! 12 Teile für EURO 2,90,--
Vielleicht ziehe ich mal was noch nie dagewesenes auf: Ein Schneeballsystem in Schwarzenborn... oder Kingsclub in Kösen... Euer Schomberg (Vertriebsleiter Mitte)
P.S.: Widerstand jetzt: http://www.der-mittelstand-steht-auf.de/ Ansonsten gilt wie immer: Jeder Mensch ein Künstler!
P.P.S.: Nachtrag zur letzten Kolumne. Ein profunder Kenner hessicher Mentalitätsgeschichte schickte mir folgenden Beitrag [Orthographie beibehalten] zum Thema "Kerle, Kerle, Kerle!": "wenn schon, dann ist dieser ausdruck gleichsam der gesamthessische "missing link", der unsere so disparaten hessischen völkerschaften zusammenschmiedet. zum beleg verweise ich auf "eckhard henscheid: wie max horkheimer einmal sogar adorno reinlegte. anekdoten über fußball, kritische theorie, hegel und schach. mit zeichnungen von f.w. bernstein. zürich 1983", s.26: 1960. frankfurter waldstadion. eintracht-glasgow! 6:1! die zuschauer begeistert! wogen der brandenden freude! sprechchöre! das stadion steht kopf! - alle aber übertrifft an begeisterung der eintracht altanhänger richard ("ritschi") wurbs [wie ich ein gebürtiger kasseläner! cafh]. "kerle, kerle", flüstert er ein ums andere mal vor sich hin, "kerle, kerle". es klingt wie "gählegähle". niemand hört´s- das geplärr ist zu übermächtig. aber ist es nicht wie eine feier? ist es nicht wie ein stilles gebet? und sind gott die stillen, die ganz leisen gebete nicht die - allerliebsten?" |