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Erkenne und er-lebe den Text!
Bimmelbahnfahren am Ostermontag - ein Besinnungsaufsatz & Preisrätsel
Es war doch ein so schöner Ostermontag. Warm und sonnig, von den Wolken angelacht, entschieden meine Eltern, dass die Osterferien für mich zu Ende sein sollten und dass ich mich wieder meinen Paragraphen zuwende. Am Bahnhof angelangt, bewies sich wieder einmal, dass es einem wohlentspannten Menschen ziemlich egal ist, was um einen so passiert.
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So ließ ich mich dann auch nicht aus der Fassung bringen, als sich im Reisezentrum eine hübsche junge Dame vordrängelte. Ich hatte alle Zeit der Welt, sie scheinbar nicht (meinte sie doch, ihre Brieftasche im Zug liegen zu lassen und dieses im Reisezentrum unverzüglich melden zu müssen). So gewährte ich ihr dann doch lieber die paar Minütchen und wurde für diese gute Tat mit dem anmutigen Anblick ihres angespannt nach vorne gebeugten Hinterkörpers belohnt. Ach, so fing der Tag doch angenehm an, wenn selbst die selbstverständlichste Form der Freundlichkeit belohnt wird. Nach diesem entzückenden Intermezzo, hieß es dann wie immer am Bahnsteig warten. Eine volle Stunde sollte es dann auch werden.
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Kam ich doch viel zu früh am Bahnhof an. Was soll’s? Ich hatte Zeit! Der Bahnsteig war dazu noch weitgehend leer. Ich durfte mich, während meiner überlangen Wartezeit dennoch immer wieder wundern, dass die Jugendlichen nicht die angenehme Frühlingssonne zu genießen wussten. Sie fanden nicht einmal Gefallen an der neuen zarten Frühlingswärme, die einem doch das Graue und Kalte des Winters langsam aus den Adern zieht und Farblosigkeit und Tristesse gegen einen sanften rosigen Teint auszutauschen vermag. Nein, sie wehrten sich sogar dagegen und setzten sich lieber auf die kalten Platten aus Marmorersatz - welche den Belag des neuen Bahnsteiges ausmachen – anstelle der weitgehend freien und genauso schattigen Sitzplätze. Den Grund für dieses Verhalten sollte ich dann auch gleich später erfahren. Untätiges Warten auf den Zug, dieses stellt wirklich eine Tätigkeit dar, die an Zivilisation nur so strotzt. Das Warten auf ein kommendes und sicheres Ereignis an sich ergibt Sinn; das Untätige daran ist zur Entspannung der Gemüter ebenso sinnvoll. Dies ist einer der wenigen Momente, in denen man an alles und an gar nichts denken kann.
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Keinen Gedanken ernsthaft bis zum Ende führen könnend, da doch jederzeit eine Ablenkung in Erscheinung tritt. Sei es eine schöne Frau, eine weniger schöne, eine absolut indiskutable oder es kommt der Zug. Es passiert immer etwas am Bahnsteig. In meinem Falle waren es die Jugendlichen, die jeder für sich auf dem kalten Fußboden saßen, aber auch die immer wiederkehrende automatische Ansage, die alle Reisenden darüber informierte, dass dieser Zug - welcher meiner werden sollte - etwa fünf Minuten Verspätung habe. Verspätung, was kümmert mich das? Ich habe doch alle Zeit der Welt. Diese fünf Minuten reisse ich doch sogar mit Vergnügen am Bahnsteig ab. Normalerweise hat dieser Zug nämlich mehr als das Doppelte an Verspätung. Da dachte ich mir doch, dass eine solche Ansage eher positiv sei.
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"Hallo AHS, Vorschläge für Deine beliebte Kolumne:" 1.Plattenkritik (Fundstücke, Obskura oder Top 10, studentische Highlights), evtl. humoristisch begleitet 2.Lieblingsfertiggerichte diverser Corpsbrüder mit deren "Erlebnissen" 3.Die Entwicklung des Rock´n Roll im realen Sozialismus 4.Postkastenfinden aus Borg-Sicht 5."Mittelerde und Korporationen - Eine Gegenüberstellung" 6.Filme vor der Mensur (Fight Club etc., ähnlich Top1) 7.ThekengesprächemitschriftenfüreinenAbend(brauchbar?) 8.Fiese Zitate 9.Strizz und bizzl - verwandt? 10.Promifrisuren-und-deutung-derer-oder-so-ähnlich Gruß, Froebe" [Zitatende] P.S.: Ich habe es immer gewusst! "Manieren" wurde von den Lesern der WELT zum "Buch des Jahres 2003" gewählt. Wie überraschend, Hause Springer! Ich zitiere stellvertretend einen der Leser, der schrieb: „Ich denke, Asserate hat hier ein Buch von wirklich lang bleibendem Wert geschrieben, einen ‚instant classic’.“ Übrigens: Interessante Lesempfehlungen zum Themenkomplex Bahnreise [hier] und [dort].
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Zu meinem Erstaunen kam der Zug dann sogar noch früher, er hatte nur drei Minuten und 30 Sekunden Verspätung. Was will man mehr, der Zug ist so gut wie pünktlich. So etwas habe ich bei dieser Zugverbindung nie gesehen. Sollte ich darin kein gutes Omen sehen? Nicht lange darüber nachgedacht.
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Der Zug ist angekommen, jetzt heißt es so schnell als möglich hinein und einen Sitzplatz ergattern. Keinen Blick auf die aussteigenden Reisenden werfen, nein, während dieses Vorganges in den Fahrgastbereich spähen und die Sitzplatzverteilung überprüfen. Der Zug hat fünf Waggons, ist eine Regionalbahn mit zwei Etagen, viele Leute steigen aus, viele bleiben im Gang stehen… Was soll ich davon halten? Als Erster stürme ich rein, entscheide schnell und spontan nicht nach einem Raucherplatz Ausschau zu halten, sondern hektisch den ersten freien Sitzplatz in Anspruch zu nehmen. Im Zwischenabteil, im Gang, quer zur Fahrtrichtung. Na klasse! Unbequemer ging es nicht! Aber was soll’s! Sobald sich ein besserer Sitzplatz anbietet, kann ich ja wechseln. Nun kommt die Zeit, dass man sich umschaut, wer so alles um einen sitzt.
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Vor mir ein freundliches Rentnerpaar das sich ebenso offen und freundlich mit einer anderen Dame unterhält, welche zeitgleich mit mir eingestiegen ist. Neben mir ein harmloser Jugendlicher der in irgendeinem belanglosen Magazin rumblättert, im Gang stehen andere, weder liebreizend noch auffällig, nebenan, ein paar Fahrradtouristen… Nichts Außergewöhnliches zu sehen also, bis auf der Tatsache, dass sich um mich herum verdammt viele Menschen tummeln. Das vermochte mich auf den ersten Blick nicht verunsichern, ist die Bahn nun mal ein öffentliches Verkehrsmittel. Am Ostermontag gilt dieses erst recht! Nur warum sehen die einen, die schon vor mir im Zug eingestiegen waren, so blass und müde aus?
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Der Zug fuhr los. Mit dem Verlassen des Bahnhofes verließ ich dann auch die einzige Möglichkeit zur Rückflucht zu meinem sicheren Elternhaus. Mir war es in dem Augenblick zwar bewusst, doch war ich mit dem Einstieg in diesen vollbesetzten Massentransporter ja damit einverstanden. Hatte ich doch das Ziel "Marburg und Studium" fest vor Augen! Unmerklich schnell lümmelte sich der Zug aus meiner Ortschaft heraus. Schneller als ich es überhaupt richtig als solches zu empfinden vermochte, war ich schon in einer Ortschaft die ich nicht kannte. Mein Gemüt sank. Die Menschen um mich herum wurden blasser, ruhiger, aber dennoch, es gab ein ständiges Sichbewegen. Eine stete innere Unruhe in den Mitreisenden. Auch mir wurde es allmählich unbehaglich. Im Durchgang sitzend konnte ich kein Buch vernünftig lesen. Ständig zogen Raucher auf der Suche nach ihrem Sitzplatz oder dem Raucherabteil an mir vorbei, ständig stolperten Mitreisende mit ihren Taschen von links nach rechts, auf der Suche nach einem Sitzplatz, über meine Beine. Doch vermochten es diese alle bei ihren Streifzügen nicht, auch nur den leisesten Hauch eines Luftzuges zu entfalten. Es war, als ob die Luft im Innern dieses Metallwesens stehen bliebe. Dass die Menschen sich im Innern immer nur verschieben, aber nie weniger oder mehr werden würden. Dorf drei, Dorf vier, an jedem Halt das gleiche Bild, graue, farb- und motivationslose Gestalten gehen raus, Frische kommen rein. Kaum sind die neuen Reisenden drinnen, werden auch sie leise und zeigen ihr Ungemach durch den Verlust der leichten Röte, welche sie gerade von der frischen Frühlingssonne erhalten hatten. Warum? Dunkel war es an jenem Ort, kein Sonnenlicht vermochte die leicht gefärbten Scheiben zu durchdringen, nur die Hitze. Die schwüle Hitze eines regnerischen Sommertages. Mir war es als sitze ich inmitten eines Wesens. Es war warm, es war feucht, es war in stetiger Bewegung und Erneuerung. Das was es zu sich nahm, assimilierte dieses Wesen. Wer nicht die graue Farbe des Innenraums beim Einstieg hatte, bekam sie sehr schnell. Wer die Sozialraupe verließ, wurde sofort ersetzt. Ohne dass ich es bemerkt hatte, war auch ich schon Bestandteil dieses Wesens geworden. Mein Frohsinn war weg, meine Gesichtsfarben erblasst, sämtliche Muskeln wenn nicht verkrampft, dann lethargisch. Ich war einer von diesen vielen Reisenden, ohne Namen, ohne Bedeutung, ohne Vergangenheit oder Persönlichkeit. Ein Assimilierter in einer farblosen und immer gleichen Menschenmasse. Kein mir bekannter Despot hat es jemals geschafft, innerhalb so weniger Minuten, den Verstand und das Aussehen der Menschen so zu vereinheitlichen, wie dieses Wesen. Ich wollte mich aber nicht gleichstellen lassen! Das Ehepaar mir gegenüber ist mittlerweile ausgestiegen.
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An deren Stelle ist eine ältere Frau mit ihrem Kater ("Poldi", glaube ich) getreten. Sie liest fernab vom Treiben um sie herum „Die Knochenlese“ von Kathy Reich (Sondereinband, 23,00 € bei Amazon). „Die Knochenlese“, wie zynisch muss es doch sein, dieses Buch hier zu lesen. Einer ähnlichen Tätigkeit wie die der Tempe (die Heldin des Buches) ging nämlich auch ich nach. Da ich selber nicht mehr in der Lage war zu lesen, hatte ich mich darauf reduziert, die Bestandteile der um mich herum faulenden und streunenden Masse nach deren Herkunft und Gewohnheiten zu analysieren. Und ähnlich wie in jenem Buch, fand auch ich nur selten eine Antwort auf meine Fragen und beließ es immer wieder bei Vermutungen. Das einzige was alle gemeinsam hatten, war, dass man es ihnen ansehen konnte, den schleichenden und fortlaufenden Prozess der Zersetzung, welcher bei ihnen mit Beginn der Fahrt eingesetzt hatte. Jeder schwitzte und atmete die letzten Tropfen Flüssigkeit seines Körpers aus. Die „Klimaanlage“ saugte diese Flüssigkeit auf, spendete im Ausgleich dafür aber keine Frische, sondern verdickte die Luft, mit den Ausdünstungen der anderen Abteile. "Wie in einem geschlossenen Zyklus", dachte ich mir. Langsam zog sich der rote Metallwurm durch die Hügel und Berge, an jedem Bahnhof haltmachend.
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Jedes Mal das gleiche Bild: Verdaute und ausgezehrte Masse ausspucken, frische Masse in gleicher Menge gierig in sich reinschaufeln, bei dieser sogleich mit dem Assimilierungsprozess beginnen. Wer als Mensch in diesem riesigen Metallwurm aufgenommen wurde, kam als farbloser Schatten seiner selbst wieder heraus. Nur noch eine Erinnerung an das Wesen, welcher er einmal war. Auch ich spürte allmählich, dass ich den Geruch des Innenraumes in mich sog, dass ich nur noch so atmete, mich nur noch so bewegte, nur noch so dachte – nämlich gar nicht mehr – wie dieser Wurm es von mir erwartet hatte. Dessen plötzlich bewusst, ergriff ich die Initiative und versuchte erneut meine Gedanken zu ordnen und mindestens eine logische und positive Überlegung zu Ende zu führen. Zum Beispiel an jenes weibliche Wesen dort im Gange. Einen Hauch an Schönheit hat sie aller Widrigkeit zum Trotz noch behalten können, wie mochte sie wohl aussehen bevor sie von diesem Monstrum geschluckt wurde? Wie mag sie wieder zu sich finden, wenn sie wieder ausgespuckt wird? Ahne ich in ihrem Gesichtsausdruck eine Spur von Lebensfreude, oder beobachte ich da nur wie ihre zarte und junge Seele dabei ist, sich von ihrem Körper zu lösen? Das war wohl etwas zu viel Ablenkung für den Metallwurm. Ich hatte es doch geschafft mich von ihm abzuwenden und noch die Kraft gehabt nach schönen Dingen in seinem grauen Inneren zu suchen. Diese Form der Verweigerung der Assimilation wurde sofort hart bestraft. Zuerst empfing ich von einem Nikotiniker - der auf der Suche nach dem Rauchplatz war – einen heftigen Stoß an der Stirn, dann fand ein anderer, anstelle eines geeigneten Sitz- und Ruheplatzes, meinen Fuß um seinen darauf zu erholen, und schließlich stieß die Klimaanlage die volle Wucht der frischen Verdauungsdämpfe in meine Lungen rein. Ich spürte förmlich wie der letzte Funke Stolz in mir rebellierte, und sich schließlich in der feuchtwarmen Innenluft zersetzte. Ich war selber nur noch der Schatten meiner selbst, ohne Persönlichkeit, ohne Empfinden, ohne Stolz. Das einzige was mir blieb, war die Erinnerung, dass ich früher doch anders war, dass es doch ein schöner sonniger Frühlingstag war, bevor ich in diesem elenden Wurm einstieg. Mein einziger Trost sollte sein, dass der Wurm auch mich ausspucken wird, wenn er mit mir fertig ist.
Aufbereitung & Straffung (doch, er wurde gestrafft!) des Textes: Heiko Schomberg.
Lösungsvorschläge mit dem Namen des Autors bitte an preisraetsel@heiko-schomberg.de - Einsendeschluss ist der 26.01. 2004. Zu gewinnen gibt es vier Flaschen Preiseinstiegssegmentbier (Oettinger). Viel Glück und bis nächste Woche, Euer Schomberg (Preisringer der Gewichtsklasse "A")!
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